Der alte Mann

Der alte Mann ist müde. Müde vom Tag und müde vom Leben. Zweiundsiebzig Lebensjahre hat er hinter sich. Und es ist heute schon Abend – ein sonniger Abschluss eines Tages, der mit Sonne begann. Es ist eigentlich immer Sonne hier. Die wenigen Regentage im Jahr kann man an einer Hand abzählen.

Das kleine Haus steht auf Stelzen zwischen einigen kleinen Hügeln und hat zu jeder der vier Seiten eine Terrasse, die das ganze Haus umschließt. Große, lichtdurchflutete Fenster und Türen ermöglichen einen Blick rund um. Sie sind selten geschlossen, mindestens einen Spalt geöffnet, da die Temperaturen im Haus schnell unerträglich werden. Schließlich liegt das Haus im gleißenden Sonnenlicht von früh morgens bis spät abends.

Der alte Mann sitzt gern auf der Terrasse, von der aus er auf den Hafen schauen kann. Morgens zum Frühstück kommen die Fischer mit ihrem Fang zurück und entladen die Boote. Mittags, wenn er sich zu seinem Nickerchen auf die Bank legt, sitzen sie gemütlich auf dem Steg und reden, essen und trinken. Er wird wieder wach, wenn die Frauen kommen und ihre Männer nach Hause treiben. Dann ist etwas Ruhe da. Am Nordstrand spielen dann die Kinder, Baden und vertreiben sich die Zeit. Er wandert dazu auf die Seite, wo seine Küche ist und trinkt das erste Glas Wein des Tages.

Er hat auch eigene Kinder – ein Mädchen und einen Jungen. Die haben hier noch nie im Sand gespielt. Dafür sind sie schon zu alt und er noch nicht lange genug hier. Beide wohnen irgendwo auf der Welt und melden sich manchmal am Telefon. Wie geht’s? Was machst du? Magst du uns besuchen kommen? Na dann, bis bald. Mehr ist da nicht. Sie sind erwachsen. Das glauben sie zumindest . Er wurde nie erwachsen, aber irgendwann tun alle anderen so, als wenn man einfach nicht mehr Kind sein darf.

Es war mal mehr Leben in ihm, als seine Frau noch gelebt hat. Sie war die Liebe seines Lebens. Viel zu früh hat sie ihn allein gelassen. Allein gelassen mit nichts. Er hat keinen finanziellen Sorgen, lebt er doch gut hier auf der Insel inmitten der freundlichen Fischer, deren Frauen und Kinder. Aber „sie“ fehlt ihm. Sie fehlt ihm unglaublich.

Er ist und war aber nie ein Kind von Traurigkeit. Seine Blicke sind gern bei den Schönheiten der Insel. Aber er würde seine Frau niemals betrügen. Dazu hat er schon zu viel erlebt. Zu viele Erfahrungen haben ihm gezeigt, dass Ehrlichkeit immer das Wichtigste ist, auch wenn es wehtun kann. Schließlich war er viermal verheiratet.

Die einzige Frau in seinem Leben ist aus dem Fischerdorf und macht seinen Haushalt. Sie wäscht seinen Hemden und pflegt sein Heim. Maria ist natürlich jünger als er, aber das meiste versucht er allein zu regeln.

Die Kinder unten am Strand nennen ihn liebevoll Hennes, was für sie wohl so viel bedeutet wie einer, der auf sie aufpasst. Sie kommen zu ihm, wenn sie Durst haben oder Hunger. Er kümmert sich um sie, wenn sie sich verletzen und tröstet sie. Wenn er auf der Terrasse steht, weiß er sofort, wenn einer seiner Schützlinge fehlt. Das ist aber noch nie passiert.

Jetzt gehen langsam alle nach Hause oder werden von ihren Müttern abgeholt. Der Strand leert sich und der alte Mann winkt den letzen zu. Es wird Zeit für eine letzen Happen und ein Glas Wein. Er setzt sich dazu auf die Südseite und schaut in die Ferne. Bald wird es Nacht und die Kerzen vor ihm auf dem Tisch geben noch genug Licht für einen Brief an seine Kinder. Er schreibt gerne Briefe und schildert alle wichtigen Dinge in seinem Leben. Eigentlich schreibt er immer das Gleiche. Aber es klingt immer völlig anders, weil Schreiben seine Leidenschaft ist.

Es wird kühler und für ihn wird es Zeit, schlafen zu gehen. Niemand zwingt ihn. Aber er möchte träumen, daran denken, was er in seinem Leben erlebt hat.

Das Haus ist jetzt völlig dunkel. Aus der Ferne hört man nur noch das Rauschen des Meeres und ganz leise den Wind, wie er durch die Fensterspalten pfeift. Die Augen fallen zu und der Tag verwirbelt sich in den Gedanken – Illusion und Wirklichkeit sind nicht mehr zu trennen.