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Tanzen gehen.
Das hat bisher immer geholfen. So bekommt sie ihren Kopf frei. Nur leider ist ihre Freundin, mit der sie immer in die Stadt fährt, verreist.
Was also tun?
Emilia steht vor ihrem Kleiderschrank und prüft die Optionen, allerdings weniger mit wem sie tanzen gehen kann, eher was sie sich anziehen will. Kostüm oder lieber Kleid? Oder Bluse mit Rock? Bluse ist zu sehr geschäftlich. Dann passt doch besser ein T-Shirt. Das schwarze T-Shirt und der rote Rock – das ist es. Genial. Sie liebt es, wenn sie sich schnell entscheiden kann.
¨Papa, ich muss nochmal in die Stadt. Kannst du mich bringen?¨ Per Kurzwahl hatte sie ihren Vater am Telefon.
¨Nein, mach dir keine Sorgen. Ich fahre mit einem Bekannten dann wieder zurück.¨ Wer das sein soll, weiß sie jetzt noch nicht. Das ist ja auch egal. Ihr Vater soll sich nur keine Sorgen machen müssen. Am anderen Ende der Leitung ist Gemurmel zu vernehmen. Dann drückt Emilia die Hörertaste. Das ist geklärt.
Die Fahrt in die Stadt dauert ca. 20 Minuten, in denen beide nicht viel reden. Emilias Blick geht in die Ferne. Ihr Vater ist konzentriert.
„Was gibt es neues bei dir in der Firma?“
„Das übliche.“ Emilia möchte eigentlich nicht auf diese Frage aufspringen. „Viel Arbeit …¨ Sie stöhnt dabei ein wenig.
„Möchtest du nicht bald mal Urlaub machen?“ Emilias Vater ist immer sehr besorgt über ihr Wohlergehen.
„Papa, das ist doch gerade erst vier Wochen her.“ Emilia weiß genau, was ihr Vater gleich sagen wird.
„Du meinst die 2 Tage um das eine Wochenende? “
Emilia dreht sich noch weiter weg von ihrem Vater. Sie weiß, dass er recht hat. Warum muss er diese Art von Gesprächen, denn hier im Auto führen, wo sie nicht weg kann.
„Wirst du mit deinem Chef nochmal reden? Du bist doch eigentlich Meeresbiologin …¨
¨WAS soll ich fragen?¨ Hätte Emilia doch lieber ein Taxi in die Stadt gerufen.
¨Ich meine doch nur. Du hast mir erzählt, du willst mehr.¨ Ihr Vater spricht mit einer anstrengenden Ruhe, wie ein alter, weiser Mann.
Die ersten Lichter der Stadt erscheinen am Horizont und füllen langsam die Fensterfront immer weiter aus. Es wird nicht mehr lange dauern. Gott sei dank, denkt Emilia. Sie weiß, das ist nicht fair. Ihr wird klar, wie komisch sich diese Situation für ihren Vater anhören muss. Um so weniger kann sie sich jetzt auf eine Diskussion mit ihm einlassen. Er würde alles reflektieren. Er würde ihr zeigen, was nicht passt. Er würde ihr helfen wollen. Er würde alles tun, damit es ihr gut geht. Aber er kann ihr nicht abnehmen, dass sie leben muss. Es muss etwas passieren – schnell.
Das Auto hält an. ¨Rufst du an, wenn du nicht zurück kommst?¨ – ¨Klar. So oder so. Bis später, Papi. Ich liebe dich.¨
Emilia springt heraus, zupft ihren Rock zurecht und geht mit wippenden Schritten voller Zuversicht in Richtung Club. Hier ist sie das Mädchen, das alle kennen: Frau Doktor nennen sie ihre Freunde. Sie ist umgänglich und tanzt leidenschaftlich gern bis zum Morgen.
Der Türsteher grüßt und lächelt. Er winkt sie, direkt nach vorne zu kommen. Innen ist es warm und es sind echt viele hier. Ach Schade, ihre beste Freundin ist heute nicht da. Ach ja, deswegen war ja ihr Vater der Chauffeur. Hoffentlich macht der sich nicht allzu viele Gedanken. Sie liebt ihn einfach abgöttisch und würde bei jedem Gespräch den Kürzeren ziehen.
¨Hallo!¨ Emilia lässt gerade ihren Blick über die Tanzenden schweifen. Dass da ein Herr im Anzug neben ihr steht, ist ihr nicht aufgefallen. Er steht etwas links von ihr und sie kann ihn nicht ansehen, ohne sich zu ihm zu wenden. Das macht sie aber nicht. Keine Ahnung warum.
¨Hallo …¨
¨Entschuldigung … Emilia?¨
Jetzt dreht sich Emilia doch zu ihm. Woher kennt dieser Mann ihren Namen? Na klar wird sie öfter mal angesprochen: Na Kleine? Tanzen? … und so ähnlich. Ja, ganz ehrlich – hier in diesen Club kommen viele aus London, auch viele Touristen. Das ist zwar nett, aber nicht wichtig. Manche der Männer hier scheinen auch ganz nett zu sein. Aber immer wenn sie dann ihre Nummer haben wollen, hat Emilia eine Fake-Nummer, die sie niemals erreicht. Keine Zeit dafür! Und insgeheim will sie nicht enttäuscht werden. Einmal hat sie ihr Herz bereits verloren …
¨Darf ich fragen …¨
¨Na klar … ich bin Steven Oppens. Entschuldigung, ich hätte mich vorstellen sollen.¨
Wow, Emilia starrt unverhohlen diesen Steven an. Sie checkt ihn kurz ab. Vielleicht war er Ende vierzig, Anfang fünfzig. Ein bisschen jünger als ihr Vater sicherlich. Er trägt einen gut sitzenden grauen Anzug mit einem weißen Hemd. Eine Krawatte hat er nicht um oder hat sie nicht mehr um. Wer weiß. Ja und er war nicht hässlich, aber auch das tut nicht zu Sache. So etwas stellt sie immer wieder rational fest. Er hat ein nettes Lächeln. Seine Augen schauen sie an und er wartet darauf, dass dieser kurze Moment der Stille vorbei geht. Emilia, sag was! ¨ Emilia Wetson.¨ Sie macht vor Verlegenheit sogar einen kleinen, kaum erkennbaren Knicks. ¨Mister … Oppens. Kann ich etwas für Sie tun?¨ Höflichkeit ist wichtig. Das hat ihr Vater immer gepredigt.
¨ Mrs. Wetson, ich hoffe … ich hoffe.¨ Wieder war da dieses Lächeln. ¨Darf ich Sie zu einem Drink einladen?¨
¨ Eher nicht. Ich bin ja gerade erst angekommen. Sie überrumpeln mich gerade ein bisschen. Ich weiß immer noch nicht, woher Sie meinen Namen kennen.¨
¨Das ist eine etwas längere Geschichte. Kann ich Ihnen nicht doch ein Getränk holen und wir setzen uns hinten in die Lounge? Da kann ich besser reden.¨
Emilia zuckt mit einer Schulter und ergibt sich der Situation. ¨Aber nur ein Ginger Ale.¨
Steven läuft los und Emilia bewegt sich langsam in die Lounge Ecke. Dabei kommt sie an einigen vorbei, die sie kennt. Mit ein paar Worten begrüßt sie jeden und umarmt so manche. Trotzdem hat sie nicht vergessen, dass diese ominöse Steven wahrscheinlich schon hinten wartet. Sie sucht ihn, während sie sich weiter annähert. Es reicht ihr, einmal am Abend so überraschend angesprochen zu werden. Der Mr. Oppens sitzt bereits in einer der halbrunden Ecken und sieht eindringlich in Richtung Tanzfläche, aus der er die Ankunft von Emilia vermutet.
„Eine längere Geschichte sagten Sie?“ Emilia ist am Tisch eingetroffen und überrascht den dort wartenden Herren sichtlich.
„Oh, hi … nehmen Sie doch Platz.“ Er bittet Emilia neben sich Platz zu nehmen. „Hier ist es deutlich ruhiger. Aber … der Club ist echt nett.“
„Das erste mal hier?“
„Ja, leider – würde ich gern sagen.“ Steven schaut sich um und nickt im Takt der Musik mit. „Also, ich bin eigentlich geschäftlich hier. Mich treibt es immer wieder mal nach London.“
„Aber das hier ist nicht London?“ Emilia will eigentlich nicht so lange warten. „Wie kommen Sie denn hierher?“
„Wir sind eigentlich gerade auf einem Kongress in London. Ein Telekommunikationskongress.“
„Was es alles gibt!“ Emilia versucht etwas Smalltalk einzubauen. „Erzählen Sie bitte weiter.“
„Jaaaa.“ Steve lacht kurz auf. „Wir haben uns heute Abend entschieden, das Kongressprogramm auszulassen. Es hat uns nicht gereizt. Und die Londoner haben gesagt: Kommt mit! Wir kennen einen coolen Club.“
„Sehr interessant.“ Emilia findet es nett, kann aber der Situation nichts abgewinnen.
„Ja, es kommt aber noch besser.“ Steven lacht gluckernd. „Wir haben einen Bus gechartert. Das war günstiger als einen Haufen Taxis. Neben mir sitzt eine Dame, mit der ich ins Gespräch komme und die mir erzählt, dass Sie Meeresbiologie studiert hat.“
Emilia schaut jetzt etwas irritiert. „ICH habe Meeresbiologie studiert.“
„Ich weiß. Ich weiß.“ Steven trinkt einen Schluck. „Die Dame kennt Sie, Mrs. Wetson. Erinnern Sie sich an eine Paula?“
„Paula? Ja, klar. Die war in meinem Jahrgang!“ Emilia hat sie länger nicht gesehen. Sehr lange Zeit. Aber sie hat mit ihr erst kürzlich telefoniert. „Paula war und ist eine gute Freundin.“
„Und eben diese Paula ist Ihre Chance.“ Steve grinst über beide Ohren. „Sie hat mir erzählt, dass Sie Interesse haben, in einem neuen Bereich tätig zu sein.“
Emilia schaut völlig überrascht. Ihr Blick ist einfach nur flach. „Was für eine Chance? Was habe ich gesagt?“ Sie sieht wieder diesen freundlichen Blick in Stevens Gesicht. „Warum will ich woanders arbeiten?“ Emilia hat sich gefangen und strahlt ihre gewohnte Freundlichkeit aus.
„Also, Paula sagte, Sie hätten den Wunsch, vielleicht wieder als Meeresbiologin zu arbeiten?“ Steven zögert damit, weiter zu reden. „Ich könnte Ihnen da vielleicht ein Jobangebot machen.“
„Als Biologin?“
„In einem Team, welches dafür sorgt, das die zentrale Datenverarbeitung der Tiefseekabel in der Tiefsee erfolgt.“
„Da brauchen Sie doch aber keine Meeresbiologin?“ Emilia weiß nicht, wo das hinführt.
„Ich brauche jemanden im Team, der sich da unten auskennt.“
Steven scheint nun zu seinem Angebot zu kommen. Ihm ist eigentlich egal, wie diese Dame jetzt den Job mit Meeresbiologie zusammen bringt. Hauptsache, es funktioniert. „Es ist nicht ganz einfach, aber unser Bereich befindet sich gerade in einer wachsenden Phase. Wir bringen die Rechenzentren der Unterwasser-Kommunikation in der nächsten Jahren direkt auf den Meeresgrund und haben dann vor Ort Technikteams, die sich für den Anfang um diese Stationen kümmern. Ich glaube allerdings, dass wir irgendwann auch die nicht mehr brauchen. Dann sind diese Stationen vielleicht Ausgangspunkte für Expeditionen auf dem Meeresgrund. Eine Meeresbiologin könnte den Bereich anführen.“ Steven lässt die Worte kurz wirken. „Ich dachte daran, bereits heute schon das nicht aus dem Auge zu verlieren.“
„Und bis dahin mache ich was? Also vorbehaltlich, ich willige ein.“ Emilia spielt das Spiel mit. Sie gibt sich aber ehrlich zu, dass es spannend klingt.
„Sie sind im Projekt eine wichtige Person, arbeiten direkt in der Projektleitung mit. Als Meeresbiologin kennen Sie sich doch sicher auch mit Menschen aus, oder?“ Emilia könnte jetzt auch „Nein“ sagen.
„Ein bisschen schon.“ Emilia stellt sich vor, wie sie in einer Tauchstation arbeiten würde. „Wann sind die Stationen soweit?“
„Die erste, der Prototyp, ist fast unten.“
„Die würde ich mir gern anschauen.“
„Das lässt sich sicher arrangieren. Darf ich das als Zustimmung betrachten?“
„Zustimmung? Wofür?“
„Für den Job als Meeresbiologin.“
Emilia schaut auf den Tisch und nippt an ihrem Getränk. „Ich muss doch noch kündigen. Und dann muss ich wissen, dass es meinem Vater gut geht, wenn ich soweit weg wäre. Da ist einiges, was noch zu klären ist.“ Sie schaut zu Steven. „Ich bin interessiert. Wann soll ich anfangen?“
„Am besten zum Jahreswechsel. Dann können Sie hier noch alles organisieren, wobei wir Ihnen gern helfen.“ Steven stand auf und reicht Emilia die Hand. „Na dann, willkommen im Projekt Atlantis!“
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