Marvins Chance

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Heute keine Pizza!

Marvin räumt das Schneidebrett in seiner Kochecke frei und legt sein Messerset bereit. Jetzt muss er nur noch überlegen, was er kochen will. Mal sehen, was der Kühlschrank so hergibt.

„Steaks? Pilze? Zwiebeln?“ Marvin schiebt alles von einer Seite der Fächer auf die andere. „Mmmh … Steak mit Pilzen. “ Die Entscheidung ist wohl getroffen. Marvin holt die Utensilien heraus und legt alles fein säuberlich auf das Schneidebrett.

„Lecker!“ Marvin spricht mit sich selbst und freut sich auf das gegrillte Steak.

Sam kann ihn heute nicht beim Essen begleiten. Er hat ein Date mit dieser Managerin. Sie hat wohl diesen bekannten Comedian unter Vertrag. So hat er sie wohl kennengelernt. Ist ja auch egal. Sam wäre heute auch nicht die richtige Gesellschaft für diesen Abend. Sam geht weg!

Die Fettränder am Steak sind sehr wichtig – Schwachsinn! Marvin schneidet mit dem schärfsten Messer. Das Fleisch muss mager sein. So liebt er es. Die Küche hat einen eingebauten Grill, den Marvin schon auf ca. 180 Grad vorgeheizt hat.

Jetzt noch die Pilze. Die Pfanne mit Olivenöl aufheizen. Die Pilze hat Marvin geschnitten und ein paar Zwiebeln angeröstet.  Das wird ein Schmaus!

Jenny hat eine E-Mail geschrieben. Sie ist in Australien. Er soll sich melden, wenn er mit Essen fertig ist. Wie spät ist es wohl in Sydney? Sie haben einmal Urlaub in Sydney gemacht. Nur ein Wochenende.  Es war ein sehr, sehr schönes gemeinsames Wochenende. Die längste gemeinsame Zeit im Jahr ist in der Regel ein dreiwöchiger Jahresurlaub. Danach geht jeder seinen eigenen Weg. Abschied am Flughafen. Wiedersehen am Flughafen. Das ist ihr Alltag. Die Liebe ist dabei gewachsen, obwohl es sich teilweise schon komisch anfühlt, wenn andere Paare sich jeden Abend gemeinsam wieder finden und zum Einschlafen aneinander kuscheln. Das haben Jenny und Marvin eigentlich nur in den ersten Jahren gehabt. Das war da, als sie noch das ganze Jahr zusammen gewohnt haben. Die Zeit scheint so unendlich lange her. Heute würde Marvin sagen, es war perfekt. Dann kam der neue Job bei Marvin und alles änderte sich: Wochenendbeziehung. Das war der Anfang. Jenny bliebt zu Hause. Sie wollten ja Kinder. Eigentlich sollte es eine ganze Fußballmannschaft werden. Es hat leider nicht geklappt. Sie gaben lange Zeit nicht auf, aber dann hatte auch Jenny ein unschlagbares Angebot. Vorbei! Kinder sind seit dem irgendwie kein Thema mehr. Wenn er heute so drüber nachdenkt, ist es wohl auch besser so. Es geht auch ohne Kinder. Und wer von beiden sollte sich jetzt um die Kinder kümmern?

Marvin hat sich an den Hochtisch in seine Küche gesetzt und verspeist genüsslich Steak und Pilze. Er hat sich einen Wein dazu aufgemacht und schmeckt die feine Säure. Wenn er so drüber nachdenkt, ist die Situation mit Sam ja vielleicht auch eine Chance. Sie werden sich überlegen, wer den Posten von Sam übernehmen wird. Marvin würde es schon machen, wenn man ihn fragt. Er würde aber auch so weiter arbeiten, wie er es heute schon macht – gern auch mit einem anderen Projektleiter. Aber die Chance, jetzt mehr Verantwortung zu bekommen, würde er nicht ausschlagen.

Das Steak war perfekt. Er mag es „medium“ und freut sich, wenn er den Gargrad gut getroffen hat. Schließlich ist er ja nur ambitionierter Hobbykoch. Er genießt das saftige Fleisch und den nussigen Geschmack der Pilze. Aber das einsame Essen ist nicht sein Ding. In der Regel isst Marvin selten allein, denn hier in der Wohnanlage ist man nie allein. Es sind ja alles Kollegen, mit denen Marvin direkt zu tun hat oder die er regelmäßig beim Mittagessen in der Kantine trifft. Das Schöne an dieser Situation ist, dass er auch oft bei anderen zu Gast ist. Niemand diskutiert darüber, wer wie oft bei wem zu Gast ist. Es ergibt sich einfach. Morgen wird Marvin einfach schauen, wer zu ihm kommt oder zu wem er geht.

Der PC startet bereits, während er das Geschirr verräumt und den Grill reinigt. Das Glas Wein nimmt er mit zum Tisch und trinkt einen kleinen Schluck. Er klickt auf Jennys Bild im Messenger und wartet freudig bis die Verbindung hergestellt wurde.

„Hallo Marvin!“

„Hey, Jenny.“ Sie hat ihre langen rehbraunen Haare offen. „Bist du noch gar nicht im Büro?“

Jenny rollt mir den Augen. „Es ist 7 Uhr. Da ist das Office hier noch zu.“ Sie lächelt am Ende der Worte, weil sie merkt, dass Marvin immer wieder mit der Zeitverschiebung durcheinander kommt.

„Stimmt. Tut mir leid.“ Marvin lächelt seine bezaubernde Frau an und bedauert wiedermal sehr, dass sie soweit weg ist. „Du siehst verdammt gut aus.“ Er bringt viel Kraft in diese Worte und hofft, Jenny damit zum Lächeln zu bringen.

„Danke.“ Ja, geschafft – sie lacht. „Ich bin noch nicht ganz wach. Es war gestern ein langes Abendessen. Die Australier trinken dieses schrecklich kalte Bier, aber dafür trinken sie es in Massen. Ohne Ende!“

„Und du musstest beweisen, wie standhaft du bist. Da hast du es ihnen aber gezeigt, oder?“

„Naja.“ Jenny gähnt. „Es ging so.“

Marvin liebt Jenny, aber nicht, dass sie trinkt wie ein Mann. Niemand kann sie untern Tisch trinken, zumindest nicht bevor er selbst drunter liegt. „Pass auf dich auf! Nicht, dass du mal abstürzst.“

„Keine Sorge. Ich muss ja heue wieder fit sein, sonst verpasse ich den richtigen Zeitpunkt im Handel.“

„Und der Weizen ist verkauft?“ Marvin mag es, Jenny ein bisschen aufzuziehen.

„Quatsch! Aber der Preis ist dann nicht mehr akzeptabel. Eine Katastrophe wäre das.“ Jenny ist in ihrem Element. „Hör auf, dich über mich lustig zu machen!“

„Verzeihung!“

„Das meinst du nicht ehrlich.“

„Doch. Das tue ich.“ Marvin mag nicht streiten.

„Was gibt es bei dir neues?“ Jenny schlürft einen Kaffee und streicht ihre Haare aus dem Gesicht.

Marvin wünscht sich, Jennys zarte Haut berühren zu können und ihre Haare zu fühlen. „Ich plane unseren gemeinsamen Urlaub.“ Das ist ein wenig geflunkert.

„Echt? Wo wollen wir diesmal hin?“ Jenny sprüht voller Tatendrang, wenn es ums Reisen geht, auch wenn sie das beruflich schon oft tun muss.

„Wo möchtest du denn hin? Vielleicht habe ich ja den richtigen Riecher …“

„Wie wär es mit Russland? Moskau im Winter ist ein Traum. Wohnen in einer der sieben Schwestern. Spazieren gehen auf dem Roten Platz. “ Jenny schwärmt.

„Äh, und du hast sicher noch ein aktuelles Visum?“ Marvin ist im Traum nie eingefallen,  Moskau als Reiseziel zu planen. Bis jetzt! Er denkt an Moskau und denkt an Verkehrschaos, Bars voller Prostituierter, Schikanen am Flughafen.

„Klar! Du bekommst auch eins. Das kann ich schnell organisieren.“ Sie macht sich schon eine Notiz. „Ich sag dir Bescheid, wann du deinen Pass einschicken musst.“

„Erstmal geht es für mich auf den Meeresgrund.“ Marvin hofft um Russland herum zu kommen.

„Echt? Super – hat es endlich geklappt?“

„Wir werden bald die erste Station versenken.“

Jenny setzt sich ein freudiges Gesicht auf. Sie macht das gut. Andere würden glauben, dass sie sich wirklich freut. „Und du darfst mit? Du darfst auf den Meeresgrund? Das hast du dir immer gewünscht, oder?“

Marvin glaubt daran, dass es sie wirklich interessiert . „Jaaaa. Es geht endlich los. Wie planen es noch im Herbst. Dann schließen wir sie an. Wir sind alle gespannt, ob es funktioniert. “ Marvin wird ganz euphorisch, wenn er davon spricht.

„Fährst du mit Sam?“ Jenny kennt ihn von den Tagen, wenn sie sich an der Ostküste aufhält. Sam ist schließlich der Freund von Marvin.

„Er wird nicht dabei sein.“ Marvin Stimme wird kleinlaut. „Er wird nicht mehr bei uns sein, wenn wir starten.“

„Sam geht?“

„Er geht aufs Schiff und fährt für die Firma. Er will wieder harte Arbeit.“ Der Sarkasmus ist nicht zu überhören. „Er lässt uns allein mit unserem Projekt und verschwindet einfach. Toller Freund!“

„Jetzt sei mal nicht so selbstherrlich, mein Schatz!“ Jenny ist hörbar sauer.

„Warum? ER ist doch derjenige, der geht.“

„Ja, klar. Das klingt bei dir immer so einfach. Alle gehen ihre Wege und niemals bist du Schuld.“

Marvin ist verwirrt. Sam ist doch auch schuld, oder? Wenn das Projekt beendet wäre, dann kann er guten Gewissens gehen. Aber vorher? Das ist jetzt einfach egoistisch.

„Es geht doch gar nicht darum. Er ist aber mein Freund. Zählt das nicht? Zählt Freundschaft gar nicht?“

„Er bleibt doch dein Freund.“ Jenny klingt manchmal sehr altklug.

„Sicher. Aber er ist dann genauso weit weg wie du.“ Marvin nervt diese Sache schon. Es wäre viel schöner, wenn Jenny in seiner Nähe wäre. Er vermisst sie und hasst dieses Alleinsein, wann immer er darüber nachdenkt.

„Ich komme dich ja bald besuchen. Schon vergessen?“ Jennys Stimme klingt nicht mehr sauer. Sie wirkt beschwichtigend.

Marvin weiß bei Jenny allerdings nie so genau, ob sie ihn wirklich versteht. „Nein, habe ich nicht.“ Marvin hat sich den Termin schon mal vorsorglich in seinen Kalender notiert. Ob es dann tatsächlich so kommt, ist allerdings fraglich. Jenny kann nicht Nein sagen, zumindest nicht zu ihrem Arbeitgeber. Da springt sie manchmal ein. Und Marvin zieht den Kürzeren. „Meinst du, dass es klappt?“

„Müsste.“ Jenny möchte sich nicht endgültig festlegen. „Und wenn nicht dann, dann wird es sicher eine Woche später gehen.“

„Ich bin gespannt, wie oft ich jetzt die nächsten Monate unterwegs bin. Wenn die Rechenanlage am Nexus-Point versenkt ist und ordentlich funktioniert, gehen wir sicher in Serie.“

„Du meinst, du musst dann aufs Schiff.“ Jenny weiß, dass Marvin gern auf Hoher See ist und beneidet ihn darum oft. „Dann hören wir uns sicher eine Weile nicht mehr.“

„Wir haben da auch Satellitentelefone. Das wird schon.“ Marvin mag es, wenn Jenny ihm das Gefühl gibt, dass sie ihn vermisst. „Außerdem kann ich mit dem Schiff auch bei dir vorbei schippern.“

„Ach, ehrlich?“ Jenny klingt jetzt wie ein kleines unbeholfenes Mädchen, die staunt, was der Marvin alles möglich machen kann. „Dann klappt das ja auf alle Fälle, mein kleiner Seefahrer.“ Jenny spielt mit ihren Haaren und lächelt wieder. Eine Sekunde später schaut sie besorgt auf die Uhr und wird panisch. „Marvin, ich muss mich fertig machen. Ich muss los.“

„Okay, Jenny. Schade, ich genieße die Zeit mit dir. Auch wenn es nur virtuell ist.“ Liebe am Monitor zeigen ist so schwierig.

Jennys Bild verschwindet bald und Marvin lässt sich auf der Couch nach hinten fallen. Heute war damit alles gesagt.

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