8.Dezember

8/12

Hallo meine allerliebste Tochter,

du hast dann immer gesagt, du hast doch nur eine! Ja, das stimmt. Jetzt habe ich nur noch eine im Herzen.

Heute hat eine Praktikantin in unserem Büro angefangen. Sie müsste ungefähr so alt sein wie du. Wie du jetzt gewesen wärst. Der Chef hat sie uns vorgestellt und gesagt: Kümmert euch um sie! Ich dachte zuerst, lass mich in Ruhe, weil ich den Schreibtisch voller Arbeit liegen habe. Es wird keinen Tag wirklich weniger. Wenn ich nicht aufpasse, wird es sogar langsam mehr.

Keine Angst, meine liebe T.! Dieses Mädchen hat rote Haare und erinnert mich eigentlich gar nicht an dich. Sie hat einen Südstaaten Akzent und scheint eine sehr ruhige Vertreterin dieser Altersgruppe zu sein. Also – sie ist nicht wie du.

Wir waren heute zur Mittagspause beim kleinen Franzosen am Columbus Circle. Auch sie kam mit. Während wir auf unsere ofenfrischen Baguettes warteten, sprach sie mit mir. Sie heißt Toni. Eigentlich haben sie ihre Eltern Antonia genannt, aber Toni gefällt ihr besser. Am Anfang musste ich ihr jedes Wort sprichwörtlich aus der Nase ziehen. Um so länger wir warteten, um so gesprächiger wurde sie. Und du weißt, dass wir dort immer sehr lange gewartet haben. Dafür war es dann aber auch Mega lecker.

Toni redete und redete. Ich hörte zu, nickte, fragte manchmal nach und hörte wieder zu. Es war wie früher, wenn wir spazieren gingen. Ich habe bei dir gelernt, es geht nicht darum, dass du meine Meinung kennst, sondern dass du weißt, ich bin da und höre dir zu.

Wir fanden beide schnell heraus, dass ich ihr gut tue und sie mir gut tut. Beim Warten sprach sie noch über ihre Eltern, beim Abschluss Espresso erzählte sie mir von ihrer Kindheit.

Ihr Vater war ein Marine und sprang irgendwo aus dem Flugzeug, wo der Präsident das wollte. Dabei starb er dann auch in Ausübung seiner Pflicht. Sehr traurig. Sie lebt die meiste Zeit allein mit Ihrer Mutter und vermisst ihren Vater sehr. Ihre Mutter hatte schon einige Stiefväter angeschleppt. Toni mag sie alle nicht. Wie gesagt: Sie vermisst ihren Vater.

Ich habe ihr von dir nicht erzählt. Ich habe ihr noch nichts erzählt. Verzeih mir, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich das anfangen soll. Ich glaube, das mache ich morgen. Scarlett O’Hara sagte doch schon: Morgen ist auch noch ein Tag!

Zurück zu Toni. Wir sind dann zurück ins Büro gefahren und haben weiter geredet. Meine Kollegen haben uns in Ruhe gelassen und gelächelt. Vor allem mein Chef – der sagte nur kurz, dass Toni MEINE Praktikantin wäre.

Ich glaube, Toni wird mir an Herz wachsen. Sie ist nicht du, keinesfalls, und wird dich niemals in meinem Leben ersetzen können, aber ich hatte heute einen Tag, an dem ich wieder einmal gelebt habe. Ich habe gespürt, dass da was ist. Sie gibt mir das Gefühl, ich kann eine Vaterrolle übernehmen. Mal sehen, ob es so weiter geht.

Ich schreibe den Brief heute Abend wie fast immer am Schreibtisch zu Hause, wo auch das Foto von dir steht. Ich habe immer wieder rauf geschaut und es fühlt sich so an, als wenn du mich verstehst. Sie würde dir gefallen. Vielleicht wärt ihr auch Freunde?

T, ich liebe dich noch immer sehr . Heute treffe ich dich wieder in meinen Träumen – da bin ich mir sicher

Dein Pa