NY, 1. Dezember 2003
Meine liebe T.,
Deine Mutter und ich werden jetzt das 3. Weihnachten ohne dich erleben. Alle meine Kollegen um mich herum denken darüber nach, was sie ihren Familien schenken werden. Wir schenken uns nichts. Auch deine Mama und ich nicht. Das schönste am Weihnachten sind doch die strahlenden Kinderaugen. Klar. Du warst kein Kind mehr mit deinen vierzehn Jahren. Und irgendwie wurden die Geschenke gerade in den letzten Jahren immer größer;) Eigentlich wusstest du auch schon, was am 25. am Kaminsims stand, oder? Ich weiß noch genau, wie sehr du dich gefreut hast, als du die Schreibmaschine bekamst. Nein, kein PC. Es sollte eine Schreibmaschine sein. Ein komisches Gerät, wo alles was man schreibt auch gleich raus kommt, nicht wahr? Du warst fasziniert davon. Vom ersten Augenblick an, wo du so etwas im Museum gesehen hattest.
„Papa, das ist voll cool. Das möchte ich auch!“ Deine Maschine konnte schon mehr. Sie konnte sich ganze Sätze merken, bevor man sie druckte. Ganze Zeilen.
Danach hast du uns und deine Mitmenschen mit Texten versorgt. Über alles, was dir durch den Kopf ging.
Jetzt ist sie eine der wenigen Dinge, die wir behalten haben. Wir wollten nicht so tun, als wenn du immer wiederkommen könntest. Das konnte nicht sein. Das haben wir gewusst. Dass habe ich gespürt. So haben wir auch dein altes Zimmer leer geräumt. Schrecklich, oder? Ich habe nicht geweint, obwohl ich die Tränen gespürt habe, wie sie hochstiegen. Weggeschluckt habe ich sie. Versucht rational zu denken. Was nicht mehr da ist, kann mich nicht erinnern daran zu denken. Das dies Blödsinn hast, habe ich die letzten Jahre gespürt. Ich müsste alle Orte entsorgen, an denen wir gemeinsam waren – du und ich. Ich sehe dein Gesicht, wo ich es sehen mag.
Heute früh am Bahnhof habe ich ein Mädchen gehört und dachte, das bist du. Es war die Stimme, die ich im Kopf habe – ein Stimme im Umbruch zwischen Kind und Frau. Natürlich warst du das nicht.
Mit deiner Mutter habe ich über dich schon lange nicht mehr gesprochen. Wir vermeiden es. Ich weiß nicht, was sie denkt. Ich weiß nicht, was sie fühlt. Es ist eine Brücke zwischen uns eingestürzt, die wir versuchen sollten aufzubauen.
Wir hatten in unserer gemeinsamen Zeit oft Stress: erst hatten wir kein oder zu wenig Geld. Dann hätten wir Geld haben können, aber es hat nicht geklappt. Du hast das mitbekommen. Es gab ständig Streit darüber. Was hast du wirklich dabei gefühlt? Ich weiß es nicht.
Bitte T., ich möchte, dass du mir zuhörst. Da ist viel in meinem Kopf, was ich nur schwer in Worte fassen kann. Ich versuche es trotzdem. Immer wieder. Du kannst nicht mehr antworten und das macht mich gerade wieder sehr sehr traurig.
Ich habe ein Foto von dir retten können. Es steht auf dem Kaminsims hinter einem anderen Bild. Da seh ich mein kleines Mädchen, dass ich so sehr liebe. Mit der ich soviel Lebenszeit verbringen durfte. Ich frage mich immer wieder: warum ist das zu Ende?
Mir schießen die Tränen in die Augen. Ich muss aufhören.
Dein dich liebender Vater