Abwärts

Das Hochseefischerboot dient seit längerem nicht mehr seinem eigentlich Zweck, sondern ist von der SeaSocialCompany aufgekauft worden, um Seekabel zu verlegen. Die blaue Farbe des Vorbesitzers hat es behalten und auch den Namen – Hahn. Die Hahn ist total umgebaut worden und hat Platz für die Besatzung und die Kabeltechniker. Im hinteren Bereich, wo früher die Fischernetze und der Fang verstaut wurden, sind normalerweise die Gerätschaften und die dicken Kabel untergebracht. Dieses Mal lagert hier die Unterseekapsel und die Rechenmodule, die erst beim Absenken verbunden werden. Auch ein Kran überdimensionaler Größe ist fest mit dem Schiff verschraubt. Die Gegengewichte sind riesig und bringen der Hahn ordentlich Tiefgang.

Der Nordatlantik ist relativ ruhig. An Bord der Hahn ist ein gleichmäßiges Rollen zu spüren, was bei Menschen mit Seekrankheit schnell zur Übelkeit führt. Aber hier sind alle Anwesenden seefest und bewegen sich rhythmisch mit – wenn sie gehen, stehen, sitzen und auch schlafen.

Neben dem Kapitän und einigen Offizieren, die sich die Wachen an Bord teilen, gibt es nur zwei Matrosen. Mehr sind zum An- und Ablegen nicht nötig. Die restlichen Manöver organisieren die Jungs und Mädels von der SeSoCo.

Neben Marvin sind noch zwei Techniker und einer der Jordan-Zwillinge an Bord. Eine schlagkräftige Truppe, denkt Marvin und genießt den Alltag an Board. Die Hahn ist seit vorgestern morgen unterwegs und braucht auch noch einen Tage bis zum  Nexus-Punkt, wo die Kapsel ihre neue Position bekommt. Die Firma hat sich mit Absicht dazu entschieden, die erste Station weit entfernt von der Ostküste zu versenken, obwohl dies die ein oder andere Reise dorthin bedeutet. Aber dieser Test soll so realistisch wie möglich sein – mit allen Konsequenzen.

Marvin wird ein paar Wochen in der Kapsel bleiben, zusammen mit einem Techniker und den Jordans. Naja, zumindest mit einem der beiden. Er hat vor ein paar Tagen in der Montagehalle schon mal eine der  Kojen ausprobiert und für gut befunden. Die Rückfahrt mit dem U-Boot wird dann eher stressig, denn da ist an Ausruhen nicht wirklich zu denken. Auf dem Meer zu sein, ist für Marvin normal, aber unter Wasser in einer Kapsel zu leben? Das wird spannend. Von der Außenwelt ist er ja nicht ausgesperrt. Schließlich sitzt er direkt an einem Unterseekabel zwischen Europa und Nordamerika. Die Datengeschwindigkeit im Highspeed-Internet ist dagegen echt harmlos. Essen und Trinken ist fast so wie in einer Raumstation, aber trotzdem lecker. Gott sei dank ist die Erdanziehungskraft nicht aufgehoben und damit der Toilettengang fast normal. Und bei der Kleidungswahl ist es einfach – einfach fast nichts. Klar, Unterwäsche, aber dann ist da schon ein Overall, der Atmungsaktiv ist. Die Temperatur in der Kapsel ist bei kontinuierlichen 24 Grad. Das bedeutet, hier reist man mit leichtem Gepäck.

Marvin verläßt seine Kabine und geht Unterdeck in die Offiziersmesse, um das erste Frühstück einzunehmen. Heute steht nichts wichtiges auf seinem Plan. Er wird später seine Deckrunden drehen und dann weiter konzeptionell arbeiten. Wenn mal alle Stationen unten sind, müssen diese ja auch bewirtschaftet werden. Das ist zu planen und vor allem muss es den Techniker gut gehen. Das ist sein Job. Mit der Weile hat Steven ihn zum Projektleiter ernannt, aber Marvin hat seine eigentliche Bestimmung nicht aus dem Auge verloren. Für Sam kommt Ersatz, hat Steven gesagt. Wer das sein wird? Marvin hat davon gehört, dass es eine Frau sein könnte. Mehr nicht! Steven hütet dieses Geheimnis, obwohl es wichtig wäre zu wissen, wer für Sam ins Team kommt. Was kann diese Person? Worin ist sie gut? Was muss sie noch lernen. Er wird es wissen, wenn er wieder zurück ist. Sie soll den Schreibtisch von ihm gegenüber beziehen. Das heißt, er wird es sehen, wenn sein nächster Arbeitstag im Büro ist. Steven hat Marvin gebeten, die Fahrt mit der Hahn noch ein paar Tage hinauszuschieben, dann aber eingesehen, dass die  Gefahr von Eisbergen mit jedem Tag größer wird. ¨Dann machst du deine Einführung halt ein paar Tage später. Deine neue Partnerin kann sich ja das Projekt erstmal hier theoretisch anschauen.¨

Einen Koch gibt es hier auf der Hahn nicht, daher ist ein warmer Toast und Kaffee das wärmste, was das Frühstück zu bieten hat. Marvin macht sich einen Kaffee und setzt sich. Er ist allein, denn die Mannschaft isst schon sehr früh und sein Team überprüft die Ladung. Es wird ein ruhiger Tag, wenn das Meer mitspielt. Draußen ist es sehr kalt. Die Lufttemperatur liegt  bei knapp Null Grad, und der kalte Wind ist unbarmherzig. Ins Wasser fallen möchte er auf keinen Fall und zieht sich deshalb bei jedem Gang an Deck den Ganzkörper-Rettungsanzug an. Der hält den Körper notfalls oben und etwas Chemie sorgt dafür, dass er sogar beheizt wird.

Kaffee und Toast sind verzehrt. Jetzt geht es an Deck.

Die Kapsel ist eine halbe Kugel und unter Wetterschutzplanen verborgen. Daneben stehen die Boxen mit den Datencentern. Die wirken unscheinbar gegen die Größe der Kapsel, sind aber der eigentliche Kern der Station. Diese Center sind modular und beliebig erweiterbar. Eine geniale Erfindung, wenn Marvin so drüber nachdenkt: Alles wird auf selbst justierenden Stützen auf dem Meeresgrund stehen, so dass alles Wasserwaagen-gerade ist. Quasi wie mit einer eingebaute Wasserwaage. Sogar für das Verbinden der einzelnen Elemente ist es nicht notwendig, Taucher oder schweres Gerät zu verwenden. Statt dessen können sich die Elemente, bis auf die Kapsel selbst, auf einen Raupenantrieb unter den Ständern langsam auf die Kapsel zubewegen und drehen. Ist der Abstand ausreichend, werden die Versorgungsleitungen verbunden und verriegelt. Im Falle von Seebeben entscheidet jedes Datacenter selbstständig, ob es die Verriegelung sicherheitshalber löst. Besser es wird so eine Einheit verloren als eine ganze Station. So sagt es die Theorie, aber bei schweren Beben bleibt es sicher bei einer theoretischen Lösung. Das ist bekannt. Marvin und das Team waren dabei, als es in der Halle unter möglichst realistischen Bedingungen getestet wurde. Sogar ein unebener und steiler Meeresgrund wurde simuliert. Einmal kam alles ins Rutschen und alle im Kontrollzentrum jaulten laut auf. Doch es gab keine Verluste und die Empfindlichkeit der Sensoren wurde neu justiert. Das war es. Marvin denkt kurz daran, wenn so etwas tief unten passiert. Schnell weg mit diesen wirren Gedanken.

Erstmal muss alles heil angekommen – an der GPS-Position und letztendlich auf dem Meeresgrund. Marvin überprüft nochmal alle Verzurrungen, findet immer ein bisschen Spiel bei dem ein oder anderen Element. Mit seemännischer Sicherheit justiert er alles wieder und deckt seine Babies wieder zu.

Vorne an Deck ist Unruhe zu spüren, da die Matrosen mit Hilfe von Ferngläsern den Himmel absuchen. Marvin beurteilt kurz die Situation und entscheidet auf die Brücke zu gehen. Das Meer ist ruhig, also wird schon alles in Ordnung sein. Aber vielleicht gibt es Abwechslung an Board.

„Wir bekommen Besuch.“ Der Kapitän wartet nicht ab, dass Marvin die Tür erst wieder schließt.

„Okay. Wer?“ Er befürchtet irgendeinen Durchgeknallten aus der Geschäftsleitung, der sich einen Hubschrauber ausgeborgt hat und jetzt seine Mitarbeiter überraschen will.

„Passagiere.“

„Passagiere?“ Das heißt wohl, dass sich etwas an der Mannschaft für die Kapsel ändern könnte. Sonst wären doch alle an Board. „Ich muss telefonieren, CO.“ Der Kapitän macht Platz und reicht die überdimensionale Form eines Autotelefons zu Marvin. Das Satellitentelefon wird immer wieder genutzt, wenn die Projektleitung nicht vor Ort nicht sein kann. Aber Marvin ist die Projektleitung. Das passt nicht zusammen.

„Hubschrauber im Anflug.“ tönt es aus dem Boardfunk.

Der CO schaut kurz zu Marvin. Der legt den Hörer wieder auf die Gabel. „Na dann. Warten wir ab.“

Der Hubschrauber nimmt Kontakt mit dem Schiff auf und ist bald nicht mehr nur über die Ferngläser zu sehen. Vorne auf dem Landeplatz tauchen jetzt einige Matrosen auf. Das Schiff dreht bei, um möglichst ruhig in der See zu liegen. Marvin findet es faszinierend, wobei es sich scheinbar um ein Routinemanöver handelt. Alle wirken ruhig und entspannt. Niemand scheint sich sorgen zu machen. Das gefällt Marvin.

Der Hubschrauber setzt auf. Sofort ist das Abschalten der Turbine zu hören, und die Rotorblätter verlieren an Drehzahl. Noch steigt keiner aus. Marvin nimmt nochmal das Fernglas und versucht in das Innere der Maschine zu blicken – ohne Erfolg.

Die Türen bei Pilot und Co-Pilot öffnen sich. Erst dann wird auch die hintere Tür geöffnet. Da sitzt ein Passagier, ebenfalls bekleidet mit dem Ganzkörper-Notwasserungsanzug in knalligem Orange. Ein Helm auf dem Kopf verbirgt sogar die Haare in Gänze. Wer ist das?

Der Pilot hilft, das wenige Gepäck aus dem Helikopter auszuladen. Dann schnappt sich der Passagier die Tasche, legt die Hand salutierend an den Helm und verabschiedet sich von der Hubschrauber-Crew.

„Na, dann wollen wir unseren Neuzugang mal willkommen heißen.“ Der Kapitän steuert auf die Tür der Kommandozentrale zu. Marvin trottet ihm hinterher.

„Willkommen an Bord der Hahn! Ich bin der Kapitän.“

Der Pilot ist hinterher geeilt und zeigt auf den Helm. Ein kurzer Blickwechsel folgt und dann tippt der Neuzugang an seinen Helm. Die Tasche wird abgelegt und der Helm abgenommen.

Unter der Kopfbedeckung kommt eine junge Frau zum Vorschein und die blonden Haare fallen auf ihre Schultern.

Auch der Kapitän und Marvin haben sichtlich nicht damit gerechnet, dass die Gestalt im Helikopter sich als zierliche, aber hübsche Frau entpuppt.

„Frauenalarm!“, flüstert der Kapitän zu Marvin und zieht den Bauch hörbar ein. Marvin schaut irritiert. Dann wird ihm aber klar, dass Frauen auf diesem Schiff eher selten zu Gast sind.

„Ich bin Emilia. Emilia Wetson.“ Sie streckt Marvin die Hand hin. „Marvin?“

„Gut geraten.“ Marvin muss lächeln und schaut zum Kapitän. „Der mit der Kapitänsmütze ist meistens der Kapitän.“

Er ergreift die hingestreckte Hand. Die Hand ist sehr zart und gut gepflegt. Keine Spuren von harter Arbeit. „Dann bist du die Neue?“

„Ich freue mich auf die neue Herausforderung!“

Marvin ist skeptisch. Ist das der Ersatz für Sam? „Ich dachte, du schaust dich erstmal im Büro um? Ich habe ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass du hier in die Wildnis kommst.“

Emilia hat mit dieser Reaktion nicht gerechnet und ist verwirrt. Ein herzliches Willkommen sieht anders aus. „Steven meinte, du bist draußen. Was soll ich dann drinnen?“

Marvin öffnet den Mund einen Spalt. Sie kennt das Drinnen und Draußen der Firma und verwendet es einfach so! Einfach so, als wenn sie schon ewig dabei wäre!

„Schön, aber hier läuft alles. Es wäre also genug Zeit zum Einarbeiten gewesen.“ Marvin zeigt offen Ablehnung. Schließlich kann er das alles jetzt gar nicht verstehen.

Emilia nimmt erneut ihre Tasche und wendet sich dem Kapitän zu. „Wo geht es hier zu meiner Koje?“

Der Kapitän zuckt die Schulter. „Ich fahre dieses Schiff nur. Fragen Sie bitte den Projektleiter, wo er sie unterbringen kann.“ Dann zeigt er auf Marvin, dreht um und geht zurück zur Brücke.

„Na, Freundlichkeit hat sicher einen Namen. Hier hat wohl keiner den richtigen.“ Emilia dreht sich keinesfalls zu Marvin um, sondern läuft zielstrebig auf die Tür zu den Kajüten zu, als wenn sie das die ganze Zeit gewusst hat, wo es lang geht. Diese Frau ist total eigenartig, denkt Marvin. Sie wirkt auf ihn, als wenn sie keine Einarbeitung benötigen würde. Das kann nicht sein – jeder braucht doch eine geraume Zeit, um sich mit einer neuen Aufgabe vertraut zu machen. Was ist mit dieser Frau?

Marvin geht Emilia hinterher. Sie steht im schmalen Gang, öffnet jede Tür und sucht eine freie Koje.

„Die Techniker sind zusammen in einer Kabine. Wenn wir zusammenrücken, dann hätten wir eine freie Koje.“ Marvin ist realistisch, denn irgendwo muss SIE ja schlafen.

„Cool.“ Emilia sieht alles entspannter. Irgendwo wird sie schlafen. „Wann gehen wir abwärts?“

Scheinbar kommt sie mit auf die Station. Marvin wundert gerade gar nichts. „Aber es sind doch alle Plätze schon belegt? Wer bleibt an Board?“

„Du bist der Projektleiter, oder? Dann liegt es an dir, dies zu entscheiden.“

Marvin ist mit der Gesamtsituation immer noch überfordert. „Die Besatzung steht eigentlich fest.“

„Und ich darf, nein, ich muss mit. Steven besteht darauf, dass ich alles live und in Farbe mitbekomme, was in deinem Aufgabenbereich liegt.“

Marvin zögert. „Um dann ‚was‘ zu tun?“

Emilia ist nicht so zögerlich. „Er sagt, es ist ein wichtiger Bestandteil des Projektes an der Spitze ein Team zu haben. Er mag keine Einzelkämpfer.“

„Wir haben da unten einen Auftrag.“ Marvin zeigt mit seinem Zeigefinger in Richtung Meeresgrund. „Es ist kein Spaziergang.“

„Weiß ich.“ Emilia ist voller Tatendrang. Sie zeigt auf ihre Tasche. „Ich habe alles dabei, was wir brauchen.“ Ein abenteuerlustiges Lächeln zuckt über ihr Gesicht.

Marvin überlegt kurz, sich selbst zu kneifen, ob alles nur ein Traum ist. Der Tag fing doch eigentlich so harmlos an. Erst morgen sollte der große Tag sein, wenn die Station versenkt werden soll. Er kann sich nicht vorstellen, wie das nun laufen soll.

„Ich brauche einen Techniker unten. Und die Jordans sind die späteren Stationsleiter. Einer von beiden muss mit runter.“ Marvin hofft auf Verständnis bei Emilia. Vielleicht sieht sie ein, dass die Idee von Steven einfach mal Blödsinn ist.

„Wie viele Schlafplätze gibt es unten?“

„Es sind vier.“

„Wo ist das Problem?“

„Wir sind noch im Testmodus. Da darf niemand unnütz rumstehen.“

Emilia schiebt ihre Tasche einfach in eine der Kajüten der Techniker und kommentiert ihre Handlung: „So, dann habe ich hier schon mal eine Entscheidung abgenommen – mein Schlafplatz.“ Sie schließt wieder ihren Rettungsanzug. „Ich stehe mit Sicherheit nicht rum. Ich habe Meeresbiologie studiert und kenne das Meer, den Ozean.“

„Na toll. Ja, es ist der Ozean, aber das ist unwichtig, denn die Station könnte auch auf dem Mond stehen. Es geht hier um die Technik.“ Eine Meeresbiologin – was soll das denn? Wie kann sie denn Sam ersetzen?

Emilia schiebt sich an Marvin vorbei. „Sie steht aber auf dem Meeresgrund. Zeig mir doch DEINE Technik.“ Sie öffnet die Tür und eilt voran.

„So viel Zeit haben wir nicht.“ Marvin läuft ihr hinterher. Sie geht zum Heck, zu SEINER Technik.

„Wir haben bis morgen Zeit. Du bist doch aber auch kein Techniker, Marvin, oder? Steven erzählte was von Soziologe?“

„Stimmt. Damit sind wir beide scheinbar nicht vom Fach, oder?“

„Das kann man sehen, wie man will.“ An Emilia prallt jede Provokation einfach ab. „Das klingt wie ein schlechter Witz: Eine Meeresbiologin und ein Soziologe bauen Atlantis wieder auf …“

„Deshalb brauchen wir zumindest einen Techniker unten.“ Es wird nicht lustig, den Jordan-Zwillingen zu sagen, dass sie erstmal oben bleiben müssen, obwohl es ihre Station sein wird.

Emilia steht vor der Kuppel der Station. „Ist das unsere Station?“

Marvin denkt er daran, dass es bis eben noch eher seine Station war, aber auch das ist vorbei. „Ja.“

„Könnten wir mal reinschauen?“

„Nein, sie ist bis morgen versiegelt, damit keine Verunreinigungen reinkommen.“

„Sie ist riesig.“ Emilia steht voller Ehrfurcht vor der Station.

„Täusche dich mal nicht. Innen ist alles sehr überschaubar.“

„Dann bin ich gespannt und kann es kaum erwarten.“ Emilia hüpft hoch wie ein Teenager. „Was machen wir bis dahin?“

Eigentlich hatte Marvin einen Plan, was heute noch so ansteht. Nur Emilia war noch kein Bestandteil des Plans.

„Letzte Besprechung mit dem Team und dann Freizeit. Wir werden nachts an der Stelle ankommen, wo wir versenkt werden. Das heißt, morgen früh geht es zeitig los. Früh schlafen gehen macht also Sinn.“

„Okay.“ Emilia zuckt die Schultern. „Wo gibt es hier was zu essen?“

Marvin zeigt nun Emilia den Rest des Schiffes und die spärliche Kombüse. Während Emilia ihren Appetit stillt, lauscht sie Marvins Erklärungen zum Testprogramm der Station. Es klingt nicht so spannend, aber auch keinesfalls so ausfüllend, dass nicht Zeit für den Ozean bleibt.

Der Start hier an Board war nicht so einfach gewesen. Emilia hat sich vorgenommen, sich nicht einfach unterzuordnen. Marvin ist der Chef, aber – so hat man es ihr gesagt – sie ist die Stellvertreterin und Gegenspielerin für den Projekterfolg von Atlantis. Ja-und-Ahmen-sagen kommt da weniger in Frage. Emilia weiß aber, dass sie in ihrem Studium viel gelernt hat, was sie hier anwenden können wird. Sie liebt das Meer und sie hat so viel auch aufgegeben. Das läßt sie sich nicht vermiesen.

Kurze Zeit später sich sitzen alle Beteiligten wieder in der Kombüse und besprechen, was am nächsten Tag passieren wird. Marvin leitet diese Runde und stellt zuerst Emilia allen vor. Die Techniker sind erfreut über die weibliche Abwechslung und scherzen mit Emilia über die bevorstehenden Wochen am Meeresgrund. Emilia findet es sehr amüsant, dass man glaubt, sie ist ein typisches Mädchen mit allen Macken, die ein Mädchen „eingesperrt“ nun mal so hat.

Die Jordan-Zwillinge brauchen sich nicht zu trennen, denn nach einem Hin-und-her haben sie sich entschieden zu fünft nach unten zu fahren. Schließlich sind dort vier Schlafplätze. Und es ist geplant, rund um die Uhr zu arbeiten. Zwillinge schlafen halt in einem Bett, nur nicht gleichzeitig. Das Essen und die Wasservorräte reichen auch aus, so dass die kommende Zeit zu schaffen ist. Marvin zögert, ordnet sich aber dem Team schnell unter. Sich gegen das Team zu stellen, will er nicht tun. Er beäugt Emilia aus dem Augenwinkel und muss zugestehen, dass sie super gut vorbereitet ist. Sam ist nicht mehr dabei. Und Emilia ist hier an Board, wo der nächste Schritt des Projektes morgen startet. Es ist sein Projekt.

Nach der Besprechung essen alle gemeinsam zusammen Abendessen und plaudern über die möglichen Mahlzeiten unten in der Kapsel. Es ist dann doch fast so wie in einer Raumstation. Auf bestimmte Gerichte, wie Steaks und Würstchen, müssen vor allem die Männer der Expedition für eine längere Zeit verzichten. Aber es soll wohl trotzdem schmecken, bestätigt Marvin.

Die Betten bzw. Kojen sind schmaler als zu Hause und Privatsphäre gibt es eigentlich nur auf der Toilette. Und in der Dusche – ein senkrecht stehendes Rohr in der ohnehin viel zu kleinen Badekabine – da ist man für sich allein. Da bekommt der Begriff Lagerkoller ein ganz neue Bedeutung, wenn eigentlich immer jemand da ist.

Emilia schaut sich langsam nochmal alle Teammitglieder an. Der Techniker, der morgen früh die Aktion von oben steuern wird, fühlt sich nicht wirklich dazugehörig und verabschiedet sich bald von den anderen. Er muss außerdem noch seine Schlafkoje für Emilia räumen, sagt er. Emilia lächelt ihn an, und er verlässt schmunzelt die Kombüse.

Peter Jordan, der zwei Minuten jüngere der beiden Zwillingsbrüder, holt ein Kartenspiel aus der Tasche. „Wer kann Rommé?“

„Ach, bitte, Peter. Die Nacht ist ohnehin so kurz.“ Marvin rollt mit den Augen. „Wir werden wohl unendlich viele Romméspiele spielen müssen, wenn du uns in deiner Zuständigkeit hast.“

„Stimmt.“ Peter stößt seinen Bruder Frank an. „Wenn wir unten sind, dann haben wir das Sagen. Und du, Marvin, machst das, was wir wollen.“

„Er ist immer noch der Projektleiter.“ Emilia schaut irritiert zu den Zwillingen.

„Nun höre mal zu … Emilia … du bist hier das Küken. Egal, wer der Chef ist … du bist es nicht.“ Peter und Frank lachen laut.

Emilia weicht zurück und schweigt. Der Schlag hat gesessen. Sie schweigt eine Weile und hört den Gesprächen der Männer zu. Vielleicht muss sie sich ja nicht gleich mit allen anlegen. Aber der Peter zeigt sich aggressiv – keine Ahnung warum.

Frank, der lange Zeit nur zugehört hat, ist mit Peters Art gegenüber Emilia nicht einverstanden und sucht den Blickkontakt mit ihr. Er möchte ihr gern ein Lächeln schenken, wenn sich die Blicke mal begegnen, aber Emilia orientiert sich immer wieder an Marvin, wenn der die Stimme erhebt. „Peter, ich denke, es ist an der Zeit, auf die neue Teamchefin anzustoßen, oder? Also, Emilia ist ja die Stellvertreterin von Marvin. Lass uns die Gläser erheben!“

Jetzt ist es Peter, der irritiert schaut. Er wirkt sauer. „Faktisch, klar … aber es muss sich in der Praxis erst zeigen.“

„Ruhig, Kollegen. Ich glaube, wir sind hier ein so kleines Team, dass es fast egal ist, wer das sagen hat.“ Marvin hebt beide Hände. „Ich gebe morgen hier den Startschuss und unten übernehmt ihr, Peter und Frank. Passt das?“

„Von mir aus.“ Peter steht auf und geht zur Tür. „Ich gehe schlafen. Startzeit 7 Uhr?“

„Ja, genau.“ Marvin winkt kurz.

„So waren‘s nur noch drei …“ Frank schafft es jetzt, ein kurzes Lächeln mit Emilia auszutauschen. „Peter meint es nicht so. Er nimmt das alles hier sehr ernst.“

„Das tue ich auch.“ Emilia schaut sehr streng zu Frank. „Bitte seid so nett und schlussfolgert erst dann, wenn ihr mich besser kennt. Ich glaube schon, dass ich genau die Richtige hier bin.“

„Daran zweifelt hier niemand.“ Marvin versucht die Wogen ein wenig zu glätten.

„Danke, Marvin, aber ich spüre hier eine ganz andere Stimmung. Aber ich denke, es wird sicher besser. Morgen ist ein neuer Tag.“

„Aber es ist auch für uns nicht so einfach.“ Marvin beugt nach vorn an den Tisch. „Ich habe heute erfahren, dass du dabei bist. Und ich habe es nicht von meinem Chef erfahren. Nein. Ich erfahre es direkt von dir und zwar hier an Board des Schiffes, von dem aus wir morgen einen der großen Meilensteine des Projektes starten werden. Innerhalb weniger Minuten erfahre ich, ups, Emilia Wetson kommt mit runter. Emilia, die für mich kurz davor eine Unbekannte war. Verstehst du, warum wir hier nicht alle ‚happy‘ sind?“

Emilia nickt sehr weise, wirkt keinesfalls traurig und steht auch langsam auf. „Kein Problem. Das ist mir nicht klar gewesen, aber wir werden uns zusammenreißen müssen, wenn wir morgen in die Kapsel steigen.“ Sie schaut auf ihre Uhr. „Es ist noch genug Zeit, um ein wenig Schlaf zu finden. Wenn ich an die Schlafkojen in der Kapsel denke, vermute ich, wird Schlafen ein Luxusgut werden.“ Ein Lächeln huscht über Emilias Gesicht. Sie nimmt die Flasche Wasser vom Tisch und geht Richtung Tür. „Gute Nacht!“

Auch Marvin und Frank ziehen sich bald zurück, packen ihre Taschen abreisefertig und legen sich zur Ruhe.

Um kurz vor vier Uhr morgens klopft es an der Tür.

„Ja, bitte?“ Marvin wird aus dem Tiefschlaf gerissen und schreckt hoch.

„Hier ist der Käpt’n. Sir, wir haben eine Unwetterwarnung.“

„Kommen Sie rein.“

Das Licht wird eingeschaltet.

„Was bedeutet das? Müssen wir abbrechen?“

„Keinesfalls. Wir müssen nur vorziehen. Wir bringen euch jetzt runter.“

„Wie spät ist es?“

„Bald vier Uhr.“

Marvin reibt sich die Augen. „Das geht ja.“ Ein Gähnen beendet den Satz.

„Die beiden Techniker sind schon auf und bereiten alles vor.“

„Es ist noch dunkel, oder?“ Blöde Fragen.

„Das ist kein Problem. Wir haben Flutlicht.“

„Na, dann.“ Marvin springt auf.

„Keine Hektik. Ich gehe die Chefin wecken.“ Der CO lacht laut auf.

Marvin nickt und kann zu dieser Tageszeit keine Emotion zu „Chefin“ zeigen.

Emilia hinterfragt gar nichts und ist innerhalb von fünf Minuten bereit zum Abmarsch. Marvin grüßt wortlos und winkt ihr, ihm zu folgen. Der Wind hat nochmal aufgefrischt und die Kälte beißt sich sofort ins Gesicht. Beide gehen zuerst zur Brücke, wo schon eine rege Betriebsamkeit herrscht. Nach einer kurzen Lagebesprechung steht fest, dass das Schiff am richtigen Punkt liegt. In drei bis vier Stunden wird ein Sturm wüten und das Projekt damit gefährdet. Also startet die Mission jetzt.

Allen Beteiligten ist die Anspannung anzumerken. Die Kapselbesatzung besteigt die bisher verschlossene Kapsel und sucht mit Taschenlampen die Kojen. Die Inbetriebnahme erfolgt erst im Wasser, kurz vor dem Bodenkontakt. Nur die Notsysteme beginnen sofort ihre Tätigkeit. Die werden aber durch den Boardtechniker kontrolliert, so dass sich die Insassen hinlegen können und aus Sicherheitsgründen auch müssen. So kann wenigsten keiner umfallen.

Um 4.07 Uhr wird die Kapsel von Board gehoben, schwebt über Deck und wird dann über die Steuerboard-Wand ins Wasser gelassen. Es geht abwärts.

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