Staten Island, 4.Dezember
Hallo mein Mäuschen,
heute ist Sonntag.
Ich habe mich erst nach dem Frühstück und einem langen Spaziergang an deine Schreibmaschine gesetzt und versuche nun ein paar Zeilen auf das Papier zu bringen.
Deine Mama und ich sind zusammen spazieren gewesen. Ich habe es sehr genossen, weil es mich ein wenig an eine Form von Normaltät erinnert hat. Wir haben früher öfter solche Spaziergänge gemacht – gemeinsam mit dir und später auch mit dir und deinem Hund Leila. Du hast diese Hündin geliebt. Und dabei sind wir doch eher per Zufall auf den Hund gekommen. Du bist eines Abends nach Hause gekommen und da war er. Da war sie – die Leila. Sie ist dir nachgelaufen, hast du uns erzählt. Heute glaube ich eher, du hattest sie entführt, oder? Wie es so war, war es DEIN Hund und wir – deine Mama und ich – haben uns um Leila letztendlich gekümmert. Das ist wohl auch häufig so. Am Ende hat Leila nicht mal mehr auf dich gehört. Das war sehr schade, aber genauso, wie sie dir zugelaufen war, verschwand sie eines Tages wieder. Du hast geweint, so richtig tief geweint. Wir haben sie gesucht, aber nach 3 Monaten haben wir aufgegeben. Du hattest schon früher aufgegeben und zu uns immer wieder gesagt: Sie kommt nicht mehr. Wenn ich damals gewußt hätte, dass du ein Jahr später auch nicht mehr da warst, hätte ich mein ganzes Leben weiter gesucht.
Als ich am Tage deines Todes erfahren habe, dass du nicht wiederkommst, musste ich unweigerlich an Leila denken. Ich wollte auch dich suchen und hoffte, es zu können. Aber das funktionierte nicht – es funktioniert auch heute nicht, nie mehr.
Ich weiß heute wieder nicht mehr, wie ich jemals verstehen werde, dass du weg bist. Ich träume manchmal von dir und habe viel Spass im Traum. Dann werde ich wach und merke, es war ein Traum. Du bist tot, raus aus meinem Leben, kommst nie mehr zurück.
Es ist ein wunderschöner Tag. Die Sonne strahlt und die Kälte erzeugt eine klare Atmosphäre. Wir waren vorhin im La Tourette Park. Staten Island ist schön grün und hier gibt es viele Parks. Wir waren oft hier. Wir haben auch Drachen steigen lassen, wenn im Herbst der Wind zugenommen hat. Ich sehe dich noch heute über die Wiesen rennen. Der Drachen hat sich oft geweigert. Aufgeben gab es für uns nicht. Irgendwann flog er.
Ich atme schwer, weil ich weiß, dass ich die Hoffnung auf dich aufgeben muss. Kein Kind mehr in unserem Haus, unserem Heim.
Aber ich werde wieder träumen von dir. Hier darf ich so sein, wie ich will. Niemand kann dagegen etwas tun.
Ich glaube, ich gönne mir ein Nickerchen. Wir sehen uns im Traum. Und dann können wir alles das gemeinsam tun, was uns so viel Spass gemacht hat.
Dein Papa – der einzige wahre, den du jemals haben wirst