Wir können es mit der Weile. Wir haben das nötige Knowhow, um den gesamten Meeresboden zu erobern.“, sagte Steven. Samuel, es wird dein Projekt, dieses Wissen einzusetzen.“
Das Zentrum der Firma SeaSocialComputing befindet sich natürlich direkt an der Atlantikküsten, fernab großer Städte in Mitten von Wäldern und Wiesen. Wer hierhin anreist, fährt ca. eine Stunde vorher von der Autobahn ab. Dann taucht man ein in bunt schillernde Wälder, die sich wie ein Tunnel um die gut asphaltierte Straße biegen. Plötzlich tauchen Wiesen aus dem Nichts auf und strecken sich ins Unendliche. Dann ist aber schon wieder alles vorbei. Die Bäume machen die Straße wieder ein Stückchen dunkler, hat der Fahrer zumindest das Gefühl. Das Tageslicht schiebt sich für Bruchteile von Sekunden immer wieder auf die Windschutzscheibe und blendet. Der Fahrer blinzelt kurz, bevor wieder Dunkelheit herrscht. Da kommt wieder ein Lichtblitz. Und noch einer. Und noch einer. Da hilft nur eine Sonnenbrille.
Marvin hat sich vor Jahren eine coole Sonnenbrille gekauft, fast heimlich an irgendeinem Flughafen. Er kann sich nicht mehr erinnern. Zuhause hat er nicht direkt davon erzählt. Es war ihm unangenehm, ganz ehrlich. Mit seinen 40 Jahren sollte er nicht so auf Äußerlichkeiten achten, meinen seine Freunde, auch seine Familie. Jetzt hat er sie, trotzdem. Und er liebt sie abgöttisch und nimmt sie mit seinem Rucksack überall mit hin. Frauenhandtaschen – er muss lachen, denn sein Kampfrucksack“ bietet genug Potential für das Thema Gleichberechtigung. Nein, er weiß, was er dabei hat, aber es ist halt ein bisschen was, was Mann“ so braucht. Gut zu wissen, auf welche Hilfe er nicht angewiesen ist, weil er es in seiner Tasche hat. Neben seinem treuen Rucksack liegen im Kofferraum auch seine zwei Koffer. Er kommt von zu Hause, von seinem Kurzurlaub in der Heimat. Sie haben sich getroffen: seine Frau und er. Das ist etwas besonderes, denn Jenny ist genauso viel reisend wie er. Sie kauft Weizen überall auf der Welt und verkauft ihn irgendwo anders. Mehr weiß Marvin nicht wirklich. Reicht ja auch, sagt er sich. Sie führen eine Cyber-Ehe seit fast 5 Jahren. Getroffen haben sie sich daheim. Europa ist Heimat. Die Zeit gibt wieder Kraft, aber nimmt auch die Illusion auf ein baldiges Wiedersehen.
Der Wind nimmt zu. Durch das geöffnete Fenster riecht es nach Meer. Das Ziel scheint näher. Auf den letzten Kilometern kamen nur vereinzelt Autos entgegen. Erinnern kann sich Marvin nur an einen Versorgungslaster. Er ist in Gedanken schon beim Projekt. Er ist nicht deswegen bei der Firma. Das Social“ in der Firmenbezeichnung war ein Grund für ihn. Sie suchten Menschen, die das Verhalten von Menschen vorausberechnen konnten. Zufällig hatte er einige Studien dazu begleitet. Na, dann passte es halt zufällig so. Steven, sein Chef, erzählte beim Vorstellungsgespräch von hundert Ideen, was alles so vorangetrieben werden soll. Es klang alles interessant. So kam eins zum anderen – und zum neuen Arbeitsvertrag. In der täglichen Praxis gab es aber nicht viel Neues – das Spektakulärste war eine Analyse zu den bestehenden Unterwasserkabeln zwischen Europa und Amerika. Wir könnten sie ja die Kabel warten lassen, in dem die Techniker in Unterwasserbooten über den Meeresgrund schleichen, sagte Steven. Den Social-Faktor betreust du, Marvin!
Heute muss Marvin darüber echt lachen. Social-Faktor bedeutet nämlich nicht anderes, als sich Gedanken darüber machen, wie der Lagerkoller unter den Technikern zu verhindern ist. Und das auf alten aufgekauften U-Booten der amerikanischen Navy! Viel zu kurze Kojen, der Mief von getragen Klamotten, Toiletten der besonderen zu meidenden Art, Essen aus metallischem Kochgeschirr – Faktoren für eine ausladende Betrachtung. Gott sei dank fragte die Geschäftsführung von SeSoCo die Profitabilität ab und entschied sich für Größeres. Das Team wurde erweitert – alle relevanten Bereiche sollten dabei sein, hieß es. Marvin beteuert, dass auch sein Bereich wichtig wäre, wenn viele Menschen mit dabei sind. Gut, dann soll es so sein.
Wie aus dem Nichts taucht das Haupttor auf. Marvin fummelt die Zutrittskarte vom Hosenbund und hält die Karte an den automatischen Pförtner, der dies mit einem Piepen quittiert. Sam ist sicher schon da, denkt sich Marvin. Früh im Job, aber auch früh wieder weg. Warum auch nicht. Das Team zum Projekt entwickelte einen Plan, der erst völlig unrealistisch wirkte: anstelle des alleinigen Tausches des Unterseekabels verlegt die SeSoCo ganze Rechenanlage auf den Meeresgrund, zumindest erstmal theoretisch. Datenverarbeitung nicht irgendwo auf den Kontinenten sondern auf dem Weg von A nach B. Idealerweise erfolgt das alles staatenfrei – ein irrer Gedanke! Sam wurde Projektleiter. Gut, warum auch nicht. Marvin wurde zum Vertrauten und konnte ziemlich häufig in Sams Büro beim Brainstorming unterstützen. Er hat nicht viel Ahnung von diesem ganzen Thema. Aber es wurde langsam immer mehr. Wenn man nicht weiß, dann fragt man halt. Und alle Fachabteilungen sprudelten vor Ideen. Sam organisierte und kommunizierte in alle Richtungen. Außerhalb von Sams Büro hatte Marvin seine Aufgabe: die Rechenanlagen mussten zuerst gebaut werden und dann betrieben. Nicht mit vielen Leuten, aber der Social-faktor kommt schon zum Tragen. Er konzipierte ein Leben in den Rechenanlagen, kämpfte gegen Sparwahn und plante Programme für die Inbetriebnahme der Kapseln, wie die Wohn- und Sozialbereiche genannt wurden.
Hallo Marvin, na, alles klar?“ Die Begrüßung war wie immer – freundlich und kurz.
Sam, klar, passt. Was gibt es neues?“
Wir haben einen Prototypen der ersten Rechenanlage in der Halle C. Können wir uns nachher gern mal anschauen.“
Marvin nickt grunzend. Zeit wird es. Wenn sie noch vor den Eisbergen runter wollten, muss der Block wenigstens mal funktionieren. Seit ein paar Wochen ist die Baufirma mächtig damit beschäftigt, den Schlüssel zu übergeben.
Kommt heute Mittag, also die Uschi.“ Ursula Hahn ist die Bauleiterin der externen Firma.
Sie war bis jetzt jeden Montag hier. Aber die Lösung hat sie nie mitgebracht. Du weißt, wenn ich die Kiste nicht per Steuerkabel von hier aus dem Büro erreichen kann, kann ich ja wohl nicht davon ausgehen, dass es später in 1000 km Entfernung passt.“
Ja, aber sonst sieht es gut aus …“ Sam schwärmt vom tollen Bau.
Ja, ja, kann alles sein. Ist schon was drin?“ Marvin war vor einem Monat das letzte mal vor Ort. Das Innenleben sollte wenigstens einmal eingebaut werden, bevor die Station in die Fluten versenkt wird.
Und wie. Sogar deine Freizeiträume nehmen Formen an.“ Sam klopft Marvin kräftig auf die Schulter. Sind echt schön geworden.“
Na gut. Ich komme mit.“ Marvin schnappt sich den Helm und folgt zum kleinen Spaziergang zur Bauhalle. Es ist mit der Weile kurz vor der Mittagszeit. Der erste Shuttle mit hungrigen Büroangestellten füllt sich vor dem Eingang. Der Wind bläst heftig, aber die beiden Kollegen sind das gewohnt. Gut, eine Allwetterjacke wäre praktisch gewesen, gesteht sich Marvin ein. Doch Sam friert nicht.
Guten Tag, Sam! Marvin!“ Steven erscheint aus dem Nirgendwo und freut sich den Projektleiter des aktuell größten Vorhabens zu treffen. Wie laufen die Dinge?“
Sam spricht von Fortschritten, Wochenplänen und dem Nexus-Punkt. Hier soll die erste Rechenstation versenkt werden. Die Kollegen warten bereits auf das Go und rufen täglich an. Steven nickt, fragt nach und antwortet kurz. Dann ändert sich sein Stimmung plötzlich. Äh, Samual, Termin heute Nachmittag um 16 Uhr für alle. Ich schicke gleich eine Mail raus. Sam, Marvin, wir sehen uns.“
Was will er?“ Steven war schon einige Meter weg. Marvin ist irritiert und hofft auf Unterstützung.
Neuigkeiten.“ Sam wirkt gelangweilt. Du kennst ihn doch.“
Stimmt, es gibt immer wieder diese Termine im Team. Er nennt sie Kurze Abstimmung“ oder Kurze Info“. Sie machen neugierig, sind aber in den meisten Fällen schon bekannt. Egal, Termin ist halt Termin.
Der Besuch in der Halle C war nur kurz. Während Sam sich den Fortschritt innen zeigen ließ, prüfte Marvin die Anschlüsse. Nachdem die ersten Daten schon bei den vorherigen Besuchen nicht bis zum Schreibtisch von Marvin gelangten, nahm er diesmal die Leitungen direkt vor Ort in Augenschein. Die Verkabelung war ordentlich verlegt, gut beschriftet und scheinbar funktionstüchtig. Alle Kommunikationsklienten waren betriebsbereit, was sehr beruhigend wirkte. Zuletzt schaute er sich die Schnittstelle an der Außenwand an und prüfte die Zuleitungen, die lebensnotwendig waren oder lebensrettend sein konnten. Die Jungs und Mädels hier hatten ganze Arbeit geleistet. Jetzt musste alles nur noch funktionieren.
Sam drängte beim Rückweg zur Eile. Er betonte, dass jetzt die erste Station auf dem Meeresgrund runter muss. Der Winter mit den typischen Eisbergen auf dem Atlantik nahte. Bei Eisbergen dachte Marvin immer an die Titanic. Ein Witz über dieses Thema brachte auch Sam zum Lachen. Dann kam das Gespräch aber wieder auf die ausstehenden Projektpläne und die 0-Verzögerungsstrategie der Geschäftsleitung. Das verstand Marvin, verwies aber auf die anschließende Testschaltung vom PC.
Jawohl, so klappt das.“ Marvin hatte alle Tests zur Schnittstelle absolviert und bekam vom Testprogramm alle grüne Lichter. Ich glaube, wir haben es geschafft.“
Er rief so laut, dass Sam zu ihm herüber kam. Na, toll. Dann ruf ich mal die Jordans an.“ Die Jordans waren die Projektleiter der ersten Station – Zwillinge interessanterweise.
Wollen wir nachher eine Telko machen?“
Nachher? Wann?“
Marvin ist das egal. Keine Verpflichtung treibt ihn zurück in die Unterkunft. Wann du willst. Ich bin gerade erst angereist und voller Tatendrang. Vielleicht können wir ja die Station in der kommenden Woche abbauen lassen und dann … ist sie Ende des Monats bereits auf See. Lust mit dabei zu sein?“
Ähm.“ Sam schaut nicht in seinen Terminplan, sondern aus dem Fenster. Ich … äh, gut, ja, das machen wir.“
Marvin druckt die Testdaten aus und plant schon den Aufenthalt auf See. Nein, Seekrankheit ist kein Thema für ihn. Um so mehr genießt er die raue See und das Schaukeln des Schiffs. Unabhängig von Sam kontaktiert er bereits die Hahn und organisiert den Abbau. Ja, es ist nicht seine Aufgabe, aber Sam ist da nie so gewesen. Das Schiff für den Transport ist Eigentum der Firma und liegt bereits seit Wochen direkt am Pier. Vor Freude darüber klatscht Sam in die Hände und singt ein Lied. Die Leute in Sams Büro freuen sich über die gute Stimmung und tuscheln ein bisschen. So gut ist Sam nicht immer drauf.
Sind alle da?“ Steven kommt ins Büro und rennt gleich weiter in den Meetingsraum. Ist nur kurz, bitte.“
Marvin verschickt noch eine kurze E-Mail an seine Frau, wo auch immer sie sich aktuell befindet. Das interessiert aber keine E-Mail und macht die Sache für beide einfacher. Sie wird antwortet, vielleicht kommt auch noch eine Videokonferenz dazu. Wer weiß, vielleicht hat Jenny ja dann ihren heißen lila Pyjama an …
Der Meetingsraum ist voll. Selten sitzen alle aus Stevens Team zusammen. Dann gehen sie alle in den Raum im Nachbargebäude. Heute nicht. Statt dessen sitzen alle ein bisschen enger.
Liebes Team!“ Steven sorgt mit seinen ersten Worten für die nötige Ruhe im Raum. Veränderungen gehören im Leben irgendwie immer dazu. Obwohl ich mich immer freue, wenn alles so bleibt wie es ist, zumindest für eine bestimmte Zeit.“
Marvin hört zu, denkt dabei an die letzten Wechsel im Team. Immer wieder entscheiden sich Kollegen, dass sie gehen wollen, wechseln innerhalb der Firma oder es kommen neue Gesichter. In den letzten Monaten hat er mit Sam viel darüber gesprochen.
Wir werden Änderungen im Team haben.“
Na, das wusste Marvin doch nun schon. Viel wichtiger war es doch nun, dass dieses Meeting zu Ende geht. Wir müssen weiterarbeiten, denkt Marvin etwas gereizt.
Die SeSoCo hat viele Geschäftsbereiche. Einige Bereiche finden wir hier an der Ostküste, andere Bereiche sind aber auch auf der anderen Seite des Ozeans beheimatet.“
Schön! Das ist doch wirklich schön, wer es braucht. Marvin war HIER glücklich. Es spürte sogar manchmal ein bisschen Heimatgefühle. Wenn man von Heimat sprechen kann. Die Unterkunft war nicht ohne und deutlich mehr als ein Studentenwohnheim. Gut zu leben! Die meiste Zeit war er sowieso hier, im Bereich von Sams Team. Bleiben noch die Wochenenden und die Feiertage. Die Natur war herrlich hier, so dicht bei seinem“ Meer. Und bei schlechtem Wetter programmierter er an einem geheimen Programm. Er glaubt, dass er dann schafft, Jenny und er könnten zusammenleben.
Die Vertretung der Firma an der Westküste reizt Marvin schon ein bisschen. Allein das warme Wetter ist ein Traum. Meer gibt es da auch genug. Letzten Sommer war es da. Die Kollegen sind alle echt gut drauf und er liebt es, mit Ihnen per Videochat zu sprechen. Das Team in Übersee dagegen ist nicht sein Fall. Kaltes irisches Klima gepaart mit einem unterkühlten Teamleiter – das braucht er nicht
Es handelt sich um Samual.“ Steven macht eine kurze Pause, als möchte er die Reaktionen seines Teams testen. Bei Marvin könnte er beobachten, wie dessen Unterkiefer langsam nach unten sackt. Samual wird uns verlassen und technischer Leiter an Board der Sealed Knife. Er wollte wieder zurück ins operative Geschäft. Das können wir ihm jetzt hier ermöglichen.“
Unsinn! Er wollte als Projektleiter mehr Anerkennung. Titel mögen nur Schein sein, aber dieser Titel ist auch wichtig. Steven brauchte aber nur einen Macher. Sam war früher bereits auf Forschungsschiffen unterwegs und kannte den Ozean, vor allem den Atlantik. Das half ihm, aber nicht seiner Karriere in der Firma. Sam hat häufiger davon gesprochen, sich zu verändern. Das musste Marvin sich eingestehen. Aber jetzt? Mitten im Projekt? Er dreht seinen Kopf so, dass er Sam besser sehen konnte. Der aber lächelt wie immer. Er ist sichtlich froh, dass es raus ist.
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